Roland Wintzen wurde am 5.10.21 mit überwältigender Mehrheit von 22 zu 10 zu 3 zu 2 zum neuen Finanzbürgermeister gewählt. Seither habe ich ihm mehrfach gesagt, wie froh ich bin, dass er den Job macht (und ich die Wahl nicht gewonnen habe). Gleichwohl messe ich ihn immer wieder an den Zielen, die ich mir in meiner durchaus ernst gemeinten Bewerbungsrede gesetzt hatte – obwohl ich natürlich wusste, dass ich keine Chance hätte. Spannend: als Bewerber durfte ich als Gemeinderat nicht mit abstimmen. Trotzdem bekam ich drei Stimmen, zwei von den (damals noch) Fraktionskollegen, zur dritten Stimme habe ich zwei Personen im Verdacht, die ich jedoch nie gefragt habe, weil die das auch nie zugeben könnten.
Hier nun also das Redemanuskript:
Nachdem ich die ersten 9 Jahre bis Klasse 3 in Reutlingen verbrachte, zogen wir 1967 nach Esslingen, wo ich 1977 das Abitur ablegte. Nach dem Zivildienst begann ich 1979 das Studium in Hohenheim, das ich nach 5 Jahren planmäßig abschloss. Es folgten 3 Jahre als Angestellter, bevor ich mich 1988 selbständig machte. Aus dem 1-Mann-Wochenmarkt-betrieb wurde 4 Jahre später ein Großhandel in Filderstadt-Bernhausen, später in Stuttgart hinter der Schleyer-Halle, ab 2002 in eigener Halle direkt vor dem Stuttgarter Großmarkt. Nach 28 Jahren übergab ich 2016 die Firma mit 30 Mitarbeitern dem II. Geschäftsführer.
1993 wieder nach RT gekommen, 18 Jahre im Vollen Brunnen, 9 Jahre habe ich Reutlinger Wirtschaftsgeschichte geatmet in der alten Büsing-Porolastic-Villa in der Bismarckstr., seit anderthalb Jahren in Rommelsbach im Haus eines früheren Wafios-Konstrukteurs.
Als Gemeinderat habe ich die Umrisse des Arbeitsfelds des Wirtschaftsbürgermeisters gesehen. Die Haushaltsrede war ein Herantasten an eine komplexe Materie, der Versuch, Dinge neu zu denken. In die Verhandlungen wie die über das Betz-Areal, die Gespräche mit der Wirtschaft, die Bürgermeister-Runden, die Besprechungen mit den Amtsleitern würde ich meine Erfahrungen aus Verhandlungen mit Kunden, Lieferanten, Investoren, der Stadt Stuttgart mitbringen.
In diesen Tagen bekommen wir von unseren Kontoauszügen und vom Regierungspräsident das gesagt, was wir uns selbst uns schon längst hätten eingestehen müssen: Reutlingen kann so nicht weitermachen. Vom Tiefpunkt Lehman-Brothers 2008 bis 2019 haben fast stetig steigende Steuereinnahmen dringend notwendige Veränderungen im Denken und bei den Strukturen verhindert.
Jetzt ist Umdenken angesagt, das Großstadt-Narrativ wurde nicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung. „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt“, modern die Große Transformation genannt, trifft auf Realität. Zuerst offenbar bei den Kommunen, weil die EZB für Reutlinger Schuldscheine kein frisch gedrucktes Geld ausgeben möchte. Warum eigentlich nicht?
Was Reutlingen jetzt braucht ist das, was Reutlingen groß und reich gemacht hat: unternehmerisches Denken und Handeln.
Das Wissen von Endlichkeiten muß auch im Rathaus (wieder) verankert werden.
Wir können nicht weiter machen mit immer mehr Personal, Bauten, Infrastruktur, ohne Abläufe zu straffen, Doppelstrukturen aufzulösen und Dinge auch zu beenden.
Das Rezept „Immer mehr vom Gleichen“ hilft nicht mehr.
Und was ich schon in der Haushaltsrede angedacht habe: wir dürfen die notwendigen Veränderungen, Einschnitte, unbequemen Entscheidungen nicht Anderen, Externen, zuschieben, wie bei der RSV. Oder warten, bis andere sie uns diktieren, wie jetzt das RP.
Nein, wenn wir zur Verantwortung stehen, uns nicht davonstehlen, wegducken, dann führen wir auch die harten Schnitte selbst.
Das Regierungspräsidium hat uns die Ampel auf Rot gestellt, weil wir zu den nötigen Schritten vorher selbst nicht in der Lage waren. Was können wir uns nicht mehr leisten? Vor dieser Frage können wir jetzt nicht mehr weglaufen.
Gehören die Sammlungen des Naturkundemuseums zu unseren gesetzlichen Aufgaben, müssen wir im Postareal dafür umbauen, was doch nur eine Lösung auf Zeit bleiben wird? Können wir gleichzeitig 25 Afghanen an allen Erstaufnahmen vorbei aufnehmen, nur weil sie Bekannte eines in Reutlingen lebenden Journalisten sind? Und gleichzeitig die Kulturbetriebe einer Großstadt mit zum Teil Millionen-Zuschüssen halten?
Reutlingen braucht einen, der so unabhängig ist, dass er es sich leisten kann, diese unbequemen Fragen zu stellen.
Wenn die Mittel knapp sind, und die Steuereinnahmen der letzten Jahre haben nur verschleiert, dass Ressourcen immer knapp sind, dann müssen Prioritäten gesetzt werden.
Niemand kann in einem Jahr ohne kurzfristige Gegensteuerung zu geplanten 6 Mio. zusätzlich 8 Mio. ungeplante Verluste bei der RSV auflaufen lassen – um dann im 1. Quartal nach Bekanntwerden dieser Verluste in der Interimszeit ein Glashaus für 5 oder 7 Mio. beschließen, Züge für eine Regionalbahn bestellen, die Umstellung auf Batteriebusse bei der RSV mit 38 Mio. zusätzlichen Kosten weiter laufen lassen und dann die Augen zumachen und hoffen, dass das irgendwie gut ausgeht – wir sind hier nicht in Köln.
Wenn gleichzeitig die Steuereinnahmen in historischem Ausmaß eingebrochen sind und die politische und ökonomische Großwetterlage eher ein katastrophales Reutlinger Hagel-Ereignis als einen milden Frühling erwarten lässt, Stichworte Corona, EU-Wiederaufbaufonds, EU-Green Deal, Energiewende, Verkehrswende, Deindustrialisierung.
Wir haben uns selbst getäuscht, wir haben die Bürger getäuscht, wir haben Zeit und Zukunft verspielt, weil wir vor lauter schönen Plänen der Realität nicht ins Auge sehen wollten.
Wenn Sie die schmerzhafte Aufgabe, diese Realitäten anzuerkennen, zu beschreiben und dann stellvertretend für alle anderen dafür den Kopf hinzuhalten, delegieren möchten, dann stehe ich für diese Aufgabe bereit.
Dass ich nicht aus dem öffentlichen Dienst komme und wegen meines Alters keine Karrierepläne und keinen Plan B für die Zeit danach mehr machen muß, verstärkt die Unabhängigkeit, von der ich vorher schon gesprochen habe.
Zur Führungserfahrung in eigener Firma mit eigenem Geld bekommen Sie viel mehr Vielfalt dazu, als Sie es bei der politischen Schublade, in der ich stecke, erwarten: in meiner früheren Firma arbeiten seit mindestens 10 und bis zu 30 Jahren (und keiner unter 12 Euro Stundenlohn) Mitarbeiter von Ost nach West aus Afghanistan, Tadschikistan, Georgien, Türkei, Moldawien, Ukraine, Bulgarien, Tunesien, Ghana, Kolumbien. Einer ist promoviert in Marxixmus-Leninismus, einer war Offizier und MIG-Pilot, ein Ex-Guerrillero aus Argentinien mit 9 Jahren Knast war unser erster Rentner. Die Firma kann in mindestens 15 Sprachen kommunizieren.
Liebe heißt, auch Schmerzen auszuhalten. Zu diesem Liebesdienst an meiner Heimatstadt bin ich bereit. Das Alter würde es auch erleichtern, dass wir im gegenseitigen Einvernehmen zum Beispiel nach vier Jahren gemeinsam zur Einsicht kommen könnten, dass es jetzt genug sei. In meiner eigenen Firma habe ich den Absprung nach 25 Jahren aus eigener Kraft geschafft und auch jetzt nach fast 5 Jahren in der zweiten Reihe in Landtag und Bundestag habe ich den Ausgang selbst gefunden.
Was ich außer der Routine in den ersten 100 Tagen machen würde:
• zuallererst: Klausur mit den vier Amtsleitern: was kann ich als Dienstleister für die Amtsleiter tun? Was wollen wir gemeinsam verändern, erreichen?
• dann eine 5-Stunden-Wanderung mit dem OB vom Rathaus auf den Roßberg und nach dem Vesper mit dem Fahrrad wieder heim;
• Antrittsbesuche bei den 10 größten Gewerbesteuerzahlern: was kann die Stadt für sie tun? Was wünschen sie sich?
• Bestandsaufnahme Digitalisierung, zumindest im eigenen Dezernat;
• bei Herrn Pilz und Frau Raiser mind. zwei Tage lang ein Boot-Camp in Sachen Haushalt buchen;
• mit Herrn Wilke und Herrn Wittel einen Stadtrundgang machen
• Aktuelle Bilanz und Übersicht Inno-Port;
• Übersicht Gewinne und Verluste der letzten 5 Jahre TBR – RSV – andere Beteiligungen
• Einführung oder Belebung eines betrieblichen Vorschlagswesens
• bei der Feuerwehr meinen CE-Führerschein bis 40 Tonnen vorzeigen und eine Probefahrt machen
Ziele für die ersten 18 Monate, die ich in die Bürgermeister-Runde einbringen würde:
• Drei Vorzeige-Projekte Digitalisierung
• Personalkosten ausgenommen Kinderbetreuung um 5 Prozent senken
• TBR verlustfrei und neu aufgestellt
• RSV angebotsorientiert
• Innoport zu 50% vermarktet
Wir brauchen einen mutigen Neuanfang.
Wir müssen keinen Ballast abwerfen, Aktivitäten und erst recht nicht Menschen sind kein Ballast. Aber wir möchten uns befreien von Zwängen, Denkmustern, Gewohnheiten, die zur Last geworden sind.
Wir möchten uns befreien –
wir wollen in unser aller Heimatstadt gut leben können, wir wollen Bewegung, damit wir wieder gestalten und uns identifizieren können. Vielen Dank.
Berichterstattung GEA: https://www.gea.de/reutlingen_artikel,-reutlingens-neuer-finanzb%C3%BCrgermeister-hei%C3%9Ft-roland-wintzen-_arid,6506107.html